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5. Kongress des Europäischen Netzwerks von Psychiatriebetroffenen (ENUSP)
(Ein gemeinsamer Kongress von ENUSP und dem Weltverband von Psychiatriebetroffenen – WNUSP):

"Vernetzung unserer Arbeit für Menschenrechte und Menschenwürde"

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17.-21. Juli 2004 in Vejle (Dänemark), Idrætshøjskole (College of Sports)


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Weltweite Vernetzung unserer Arbeit für Menschenrechte und Menschenwürde

Gemeinsamer Kongress des Europäischen Netzwerks von Psychiatriebetroffenen – ENUSP und dem Weltverband von Psychiatriebetroffenen – WNUSP vom 17. bis 21. Juli 2004 in Vejle (Dänemark)

von Hannelore Klafki & Vicky Pullen

(veröffentlicht im Mitgliederrundbrief des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener e.V., 2004, Nr. 3, Artikel 17, S. 24-26, und in Soziale Psychiarie, 29. Jg. [2005], Nr. 1, S. 46-47)

Fast zweihundert Menschen aus fünfzig Ländern aus der ganzen Welt kamen in der kleinen dänischen Stadt zusammen, um sich über ihre aktuellen und künftigen Aufgaben im Kampf um Menschenrechte und Menschenwürde auszutauschen. Wie sieht die Situation der Betroffenen in anderen Ländern, in anderen Kontinenten aus? Was können wir von einander lernen? Wie können wir dafür sorgen, dass die Menschenrechte und die Menschenwürde von Psychiatriebetroffenen auf der ganzen Welt geachtet werden? Diese und viele weitere Fragen schwirrten durch unsere Köpfe, und voller Spannung warteten wir auf die feierliche Eröffnung.

Judi Chamberlin aus den USA, Karl Bach Jensen aus Dänemark und Gábor Gombos aus Ungarn eröffneten den Kongress mit Kraft gebenden und Mut machenden Worten und versetzten alle in Begeisterung und höchste Aufmerksamkeit. Ein ungeheures Zusammengehörigkeitsgefühl ergriff uns. Wir konnten sehen: "Wir sind nicht allein!" Auf der ganzen Welt kämpfen Menschen gegen Zwangsinternierung, Zwangsbehandlung und Diskriminierung. Judi ermunterte uns, wir sollen nicht darauf hören, dass wir angeblich schwach, krank und machtlos seien. Hier auf diesem Kongress bewiesen wir, wir sind nicht schwach, kraft- und mutlos, wir haben Power! Wir tragen eine Botschaft von Hoffnung, Empowerment, und Recovery in die Welt hinaus. Und wir haben der Welt etwas zu sagen, wir wollen genauso behandelt werden wie andere Bürger unserer Staaten auch.

Gábor erinnerte uns an Martin Luther King und seine Worte: "Ich habe einen Traum." Dies gilt auch für uns. Seine Träume werden von uns und unserer Bewegung geteilt. Unsere Aktivitäten sind Teil des Kampfes aller Menschen auf der ganzen Welt für Menschenwürde und Menschenrechte.

Dieser Auftakt versprach interessante aber auch arbeitsreiche Tage – und so war es denn auch. Der Programmablauf war sehr dicht und intensiv. In Arbeitsgruppen und Vorträgen konnten wir über aktuelle Psychiatrie politische Situationen am Beispiel ausgesuchter Länder diskutieren. Ein wichtiges Thema war u.a. aber auch, welche ethischen Grundregeln wir weltweit in unserer Selbsthilfebewegung haben wollen. Die Arbeitsgruppe zu diesem Thema unter Peter Lehmanns Moderation erarbeitete eine Resolution, die von den Anwesenden einstimmig als "Deklaration von Vejle" verabschiedet und inzwischen (30.7.2004) bereits ins Japanische und Holländische übersetzt wurde (siehe dort). Die Idee für eine solche Deklaration geht zurück auf eine Idee von Kalle Pehe aus dem Jahr 1999. Kalle konnte nicht zur Konferenz kommen, da er als Lehrer arbeitet und die Sommerferien 2004 in Nordrhein-Westfalen erst eine Woche nach Ende der Vejle-Konferenz begannen. TeilnehmerInnen der Arbeitsgruppe Nr. 1 "Welche ethischen Grundregeln möchten wir für unsere Selbsthilfebewegung?", die gemeinsam die Deklaration von Vejle erarbeiteten, waren Olli Stålström (Finnland), Olga Riabova & Yakov Kostrovsky (Russland), Jan Verhaegh (Niederlande), Mari Yamamoto (Japan), Dominique Laurent (Frankreich), David Bonde Henriksen (Dänemark) und Peter Lehmann. Mary Nettle (England), die neue Vorsitzende von ENUSP, half anschließend, die treffenden englischen Begriffe zu finden.

Entsetzt hörten wir, was uns Bhargavi Davar aus Indien in ihrem Vortrag erzählte: Dort gibt es einen Begriff, der ins Deutsche übersetzt "Wandernde Verrückte" heißt. In Indien gibt es viele Gesetze, mit denen man Menschen einsperren kann, aber keine Gesetze über Pflege, Behandlung oder Freilassung Betroffener. Die Polizei ist schnell dabei, die "wandernden Verrückten" von der Straße aufzugreifen und geht dabei äußerst brutal vor. In Indien gibt es 41 Anstalten. Manchmal werden die Betroffenen in Heime für Bettler untergebracht, oder in Armenhäusern, wo bis zu 3000 Menschen leben. Oft werden sie von Institution zu Institution weiter gereicht, ohne richterlichen Beschluss und ohne dass ihnen das erklärt wird. Die Anstalten sind Häuser, wo die Betroffenen in Zellen von 1,5 mal 2 Meter aufbewahrt werden. Maths Jesperson aus Schweden, den manche BPE-Mitglieder sicher aus seinem Vortrag von Kassel kennen, ergänzte, dass diese Zellen, wie Käfige seien, aus denen ein entsetzlicher Gestank käme. Er meinte, die Tiere im Zoo wären besser untergebracht als die Betroffenen in Indien. Es gibt z.B. eine Anstalt, wo von 800 Insassen 40 Betroffene auf einer so genannten Genesungsabteilung sind. Die restlichen 760 sind auf geschlossenen Stationen. Die häufigste Behandlung besteht aus Elektroschocks, die oft ohne Narkose verabreicht werden. Viele werden als "nicht verhandlungsfähig" angesehen, abgeschrieben, und sehen oft nicht mehr das Tageslicht. Die Ärzte haben die vollkommene Kontrolle über das Leben der Patienten. Oft werden Gutachten einfach so, gegen Geld, erstellt nach dem Motto: "...ist nicht fähig zu..." – damit kann z.B. ein Ehemann seine Ehefrau entsorgen. Manche Pharmafirmen benutzen sog. Entwicklungsländer zur Produktion und zum Testen ihrer Mittel. Je ärmer ein Mensch ist, desto mehr Psychopharmaka bekommt er. Leider gibt es in Indien noch keine Betroffenenorganisation.

Wir hörten weitere Berichte und Referate u.a. auch aus Afrika und England, doch der Platz reicht einfach nicht, alles zu beschreiben. Bereits jetzt sind im Internet auf der ENUSP-Website Videoaufnahmen, Photos und eine Vielzahl weiterer Dokumente der Konferenz zu sehen, siehe www.peter-lehmann-publishing.com/articles/enusp/vejle-index.htm

Aber über das Referat und die Arbeitsgruppe von Tina Minkowitz aus den USA wollen wir doch noch berichten, denn das Thema betrifft uns alle und steht auch bei der UN-Konvention für Menschenrechte auf der Tagesordnung. Seit 2002 wird an einem Konzept dieser Konvention gearbeitet. Dieses Konzept wird von 27 Ländern und einer Reihe NGO unterstützt. WNUSP ist in einigen Gruppen und in der Vollversammlung vertreten. WNUSP hat folgende Position: niemand darf wegen einer psychischen Krankheit/Behinderung eingesperrt werden, niemand darf gegen seinen Willen zwangsbehandelt werden oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt werden. Jeder Mensch hat die Fähigkeit, Entscheidungen frei zu treffen, niemand darf ihm die Entscheidungsfreiheit nehmen. Diese Position wurde von vielen Ländern bereits angenommen.

In diesem Zusammenhang wurde nochmals darauf hingewiesen, dass das Europaparlament eine Bioethik-Konvention zur Verabschiedung vorbereitet hat, in der ambulante Zwangsbehandlung, Zwangsunterbringung ohne Gerichtsbeschluss und zwangsweise Verabreichung von Elektroschocks gerechtfertigt werden sollen. Wir hier in Deutschland dachten, dass wir die drohende Änderung des deutschen Betreuungsgesetzes, das auch die ambulante Zwangsbehandlung vorsah, verhindert hätten. Nun droht das, über das Europaparlament erneut auf uns zuzukommen. Wir alle sind aufgerufen, uns dagegen zu wehren! Einige Länder, wie z.B. Mexiko und Ungarn, unterstützen uns schon. Lobbyarbeit ist dringend notwendig!

Eingebettet in den Kongress waren die öffentlichen Mitgliederversammlungen beider Verbände. Sowohl WNUSP als auch ENUSP wählten einen neuen Vorstand. Bei beiden ging es vor allem auch darum, über die vergangene Arbeit zu berichten und gemeinsam mit den Versammelten über künftige Aktivitäten zu diskutieren.

Durch die rasanten politischen Entwicklungen in Europa mussten auch die Regionen innerhalb ENUSP neu aufgeteilt werden. Während des Kongresses wurde aus verschiedenen Gründen entschieden, zusätzlich eine sechste Region zu gründen. Alles ist im Internet unter der genannten Webadresse nachzulesen, das meiste bisher leider nur auf Englisch. Deutschland gehört jetzt zur Region Nord-Ost und wird in Zukunft eng mit Polen, Russland und den baltischen Staaten zusammenarbeiten. Im Vorstand ist unsere Region durch Peter Lehmann und seinem Stellvertreter Pjotr Iwaneyko aus Polen vertreten.

Peter Lehmann, Sekretär von ENUSP, muss wegen völliger Arbeitsüberlastung dieses Arbeitsgebiet leider aufgeben. Nach einem ausführlichen Bericht über seine Tätigkeit wurde ihm mit lang anhaltendem Beifall für seine Arbeit gedankt. Verantwortlich wird hierfür künftig Jasna Russo aus Deutschland sein, die für dieses Amt ohne Gegenstimme gewählt wurde. (Nachtrag: J.R. hat dieses Amt nie angetreten.)

Leider musste auch das leidige Thema Finanzen behandelt werden. ENUSP leidet unter chronischen finanziellen Nöten. Zwar wurde vom Peter Lehmann und seiner Beraterin Kerstin Kempker ein arbeitsaufwendiger Antrag für die finanzielle Unterstützung seitens der Europäischen Kommission gestellt, doch am 28.7.2004 kam die vierte Absage in Folge aus Brüssel; offenbar wird dort dieselbe Politik wie z.B. in Deutschland betrieben: Reiche Organisationen werden unterstützt, während diejenigen, die die Finanzen am dringendsten benötigen und die beste Arbeit machen, leer ausgehen. Auf Vorschlag des BPE entschied die Mitgliederversammlung am 20.7. in Vejle ohne Gegenstimme, künftig einen Mitgliedsbeitrag von 10 Eurocent pro Mitglied der nationalen Organisationen pro Jahr zu erheben. Für den BPE bedeutet dies bei 950 Mitgliedern 95 Euro im Jahr. Gleichzeitig wurde dazu aufgerufen, Fördermitglieder für ENUSP zu werben, bzw. selbst eins zu werden. Fördermitglieder müssen keine Erfahrung mit der Psychiatrie gemacht haben – alle, die europaweit unsere Bewegung unterstützen wollen, sind aufgerufen, Fördermitglied zu werden.

Auch WNUSP wählte einen neuen Vorstand und wir freuen uns, dass Iris Hölling aus Berlin, ebenfalls BPE-Mitglied, wieder in den Vorstand gewählt wurde und zusammen mit Karl Bach Jensen Europa vertreten wird. Auch bei WNSUP können übrigens Einzelpersonen Mitglied werden, und WNSUP braucht die gleiche Unterstützung wie ENUSP. Mitgliedsanträge gibt es unter www.wnusp.net

So vieles könnten wir noch berichten und noch immer sind wir voller Eindrücke! Mit neuer Kraft werden wir uns in die Arbeit für unsere Bewegung in Deutschland stürzen. Doch wir konnten hier nur über die wichtigsten Momente dieses Kongresses berichten, weil einfach nicht der Platz dafür da ist, so einen langen Bericht zu veröffentlichen. Wir hoffen, dass wir euch zumindest einen Eindruck davon geben konnten, wie wichtig dieser Kongress für unsere weltweite Bewegung war.

Die Zeit, die wir in den Pausen, bei den Mahlzeiten, draußen in der Raucherecke und an den Abenden mit einander verbrachten, war genauso wichtig, wie die Reden, Diskussionen und Arbeitsgruppen innerhalb des Meetings. Über Grenzen, Kulturen, Nationalitäten und Sprachen hinweg kamen wir in Kontakt mit einander und tauschten uns über die Aktivitäten unserer nationalen Organisationen aus.

Nach unser aller Eindruck hat die fast zehnköpfige deutsche Delegation, allesamt Mitglieder des BPE, beim Kongress einen hervorragenden Eindruck hinterlassen, was sich sowohl in der Vejle-Deklaration, der vielen angenommenen Vorschläge, der Vertretung in den Vorständen von WNUSP und ENUSP sowie in den freundschaftlichen persönlichen Kontakten niederschlug. Schön wäre es, wenn ENUSP und WNUSP in Deutschland die gleiche Aufmerksamkeit genießen, wie dies für den BPE seitens ENUSP und WNUSP bereits seit Jahren der Fall ist. Wir bedanken uns bei allen OrganisatorInnen dieses Kongresses, vor allem aber bei Eva Rasmussen, Dänemark und Kerstin Kempker und Peter Lehmann, Deutschland, die als SekretärInnen im Vorfeld enorm viel für das Gelingen dieses Kongresses getan haben. Natürlich danken wir auch besonders den dänischen Betroffenen für ihren aktiven Einsatz während des Kongresses und der dänischen Regierung für die finanzielle Unterstützung.

Schließen möchten wir mit Judi Chamberlins Worten:

"Lasst uns den Millionen anderen, mit denen wir tief verbunden sind, und die heute nicht hier sein können, unsere Botschaft mit nach Hause bringen Und lasst uns die niemals vergessen, die nicht hier sind, weil sie gestorben sind. Uns wird gesagt, wir wären schwach, wir wären krank. Unsere Hirne wären schwer geschädigt und unsere Gedanken und Ideen seien nichts weiter als "Symptome". Doch wir wissen, dass wir stark sind, dass unser Hirn arbeitet, und dass unsere Gedanken und Ideen die Macht haben, die Welt zu verändern!"